Der Hackathon »WirVsVirus« aus Sicht der BDG-Designerin Andrea Nienhaus
»MEGA COOLES WOCHENENDE! Danke an alle hier!« schreibt Florian am 23. März um 0:23 Uhr in den Slack-Kanal »coverified«. Zwei Tage lang habe ich ein Team im Rahmen des Hackathons »WirVsVirus« im März als Mentorin begleitet. Das Hackathon-Wochenende verbrachte ich komplett vor meinem Laptop und lebte quasi im Sofortnachrichten-Dienst »Slack« und arbeitete mit Menschen, die ich vorher noch nie gesehen hatte. Ich traf sie in diesen Tagen öfter als meine eigenen Freunde. Digital versteht sich.
Was hat mich eigentlich dazu bewogen, mein Wochenende so zu verbringen? Um ehrlich zu sein: Ich war extrem neugierig. Zu diesem Zeitpunkt war sowieso alles anders. Corona. Ausgangsbeschränkungen. Die ersten Tage waren deprimierend. Da kam der Hackathon als willkommene Abwechslung gerade recht. Wie das wohl laufen würde? Und dann noch alles digital? Ich war angefixt und wollte unbedingt dabei sein. Und vielleicht würde ja die ein oder andere Design-Kompetenz benötigt. Schließlich stand in der Ankündigung, dass die Veranstalter+innen Designerinnen und Designer suchen. Schauen wir mal.
Ich meldete mich in den Rollen als Teilnehmerin (Designerin) und Mentorin an. Das ging sehr einfach, über ein sehr schönes und funktionales Online-Formular.
Hackathon? Was ist das eigentlich genau?
Bei einem Hackathon treffen sich sonst vor allem Entwickler+innen und viele Nerds. Oft werden sie von Firmen zu solchen Events eingeladen. In einem begrenzten Zeitraum entwickeln sie zu einem bestimmten Thema in agilen Teams Lösungen für zuvor definierte Herausforderungen. Gearbeitet wird zu 100 Prozent agil. Die besten Prototypen werden honoriert. So ein Format, verbindet man nicht gerade mit Behörden. Beim Hackathon »WirVsVirus« sollte das anders sein.
Christina Lang, Gründerin der Initiative Tech4Germany war auf den ersten Corona-Hackathon in Estland zuvor aufmerksam geworden. »Warum können wir so was in Deutschland nicht auch machen?«, fragte sie sich. Gemeinsam mit ihrer Mitgründerin Sonja Anton und Adriana Groh vom Protoype Fund legte sie los. Die Bundesregierung und das Kanzleramt waren begeistert und unterstützten das Vorhaben sofort. Und der Hackathon bekam seinen offiziellen Absender. Und natürlich auch ein offizielles Logo.
Der größte Hackathon der Welt
»WirVSVirus« wurde zum größten Hackathon der Welt, mit einer beträchtlichen Medienresonanz. Insgesamt gab es 42.968 angemeldete Teilnehmer+innen, davon 2.922 Mentor+innen, 1.924 eingereichte Herausforderungen, darunter einige von der Bundesregierung selbst, 1.500 entwickelte Lösungen, von denen 20 Projekte besonders hervorgehoben wurden. Und nicht zu vergessen: Die in 48 Stunden geschriebenen 464.866 Nachrichten über das Tool »Slack«, dem wichtigsten Kommunikationsinstrument des digitalen Events. Als Teilnehmerin war der Zugang zum Kurznachrichtendienst meine Eintrittskarte zum digitalen Großevent. Und so begann mein digitales Hackathon-Wochenende, das ich mir aus der Design-Perspektive genauer anschaute.
Fünf Erkenntnisse
1. Unbekanntes ausprobieren lohnt sich
So ein Hackathon ist auch eine große Unbekannte: Keine Ahnung, mit wem ich zusammenarbeiten werde, und keine Ahnung, was am Ende dabei rauskommt. Schauen wir mal. Es war toll. Und ich war nach dem Wochenende äußerst motiviert.
2. Remote-Arbeiten im Team macht echt Spaß
Mein Arbeitsradius kann ohne Probleme über die Stadtgrenze hinausgehen. Der spielt überhaupt keine Rolle mehr. Ein Kurznachrichten-Tool ist hier ein sehr hilfreiches Kommunikationswerkzeug, das die E-Mails obsolet macht. Außerdem kann man mit einem Team viel mehr schaffen als allein.
3. Designberatung ist eine Kompetenz
Als Mentorin habe ich ein Projektteam in ihrer Arbeit unterstützt und begleitet. Manchmal war ich mir nicht sicher, ob meine Unterstützung wirklich notwendig ist und ob es überhaupt etwas bringt, außer neuem Input und Verbesserungsvorschlägen. Das gute Feedback des Teams nahm mir schließlich die anfänglichen Zweifel.
4. An Design wird leider oft erst zum Schluss gedacht
Die Ernüchterung kommt am Ende: Schön wäre es natürlich, und auch sinnvoll, Designer+innen möglichst früh in die Konzeption eines Produktes einzubeziehen. Bei vielen Design-Anfragen in den Chats wurde erst später im Projektverlauf nach Designer+innen gesucht, beispielsweise um ein Video zu gestalten oder ein Logo zu bauen. Es gab aber auch positive Beispiele.
5.Design gibt Ideen eine Form
Designer+innen können wahrlich mehr als Dinge »aufhübschen«. Sie können vor allem entwerfen. Genau das müssen wir auch deutlich machen. Dieser Prozess ist bei der Entwicklung von Prototypen eine Voraussetzung. Und schließlich macht eine visuelle Darstellung eine komplexe Idee überhaupt erst sichtbar, erlebbar und verständlich. Wir haben echt einen tollen Job!
Diese Erkenntnisse habe ich für mich persönlich aus den zwei Tagen inmitten des Hackathons der Bundesregierung mitgenommen. Und der startete für mich folgendermaßen.
Alles auf Slack und los
Nach einigen technischen Herausforderungen gelang es schließlich den Veranstaltern, gut 45.000 Menschen auf Slack zu organisieren. Wir trafen uns alle in einem »Workspace«. So nennt sich die gemeinsam genutzte Arbeitsumgebung, in diesem Fall für den Hackathon.
Die zuvor eingereichten Herausforderungen wurden in sogenannten »Channels« angelegt, die wie Gesprächskanäle funktionieren. Für Mentorinnen und Mentoren, Experten-Themen wie »Design« oder »Marketing« und andere organisatorische Fragen, gab es eigene Kanäle. Diese konnte man einfach »abonnieren«. Dass es bei der großen Anzahl an Themen und Teilnehmern unzählige Channels gab, kann man sich bestimmt gut vorstellen. Und damit nahm das erste Chaos seinen Lauf.
Im Channel spielt die Musik
Alle schrieben wild durcheinander. Am Anfang war es für mich sehr unübersichtlich. So viele Informationen. Wo sollte ich als erstes hinschauen? Was als erstes Lesen? Und dann kam schon die nächste Nachricht. Ich fühlte mich wie auf dem Rummelplatz. Immerhin traf ich eine Typografin, die ich vorher bereits kannte. Ihr erging es ähnlich wie mir. Wir schrieben uns ein paar Direktnachrichten.
»Schön, dich auch hier zu treffen. Wahnsinn! So ein Trubel. Finde es aber sehr schwer, hier etwas zu verstehen und zu wissen, wo man unterstützen kann und wo nicht«, poste ich ihr.
Die Kanäle, die ich mir anschaute, hießen »#0_unterstützung_erfragen«, »#2_Companysupport_adobe« oder den Design-Channel »#3_knowhow_design«. 261 Personen sind noch in diesem Kanal angemeldet (Stand am 17.04.2020).
Am Freitag, dem Vorabend des Hackathons, beginnt das Gespräch im Design-Channel so:
»(…) ist #3_knowhow_design gemeinsam mit 19 anderen beigetreten.«
»Hallo zusammen! (Winke-Icon).«
Es folgen zahlreiche Posts. »Studiere zurzeit im Master Kommunikationsdesign.«
»Konzeptioniere und gestalte Interfaces (Apps und Websites).«
»Bin Art Director & UI / UX Designer, Fachbereich Corporate Design seit vielen Jahren, insgesamt 17 Jahre Berufserfahrung. Helfe gerne wo ich kann!«
»Very very basic CSS, HTML, JS Kenntnisse.«
»Für Fragen zu Design Thinking oder Design Sprints stehe ich gern zur Verfügung.«
»Noch eine Grafikerin aus München – biete Unterstützung beim Design, komme allerdings aus dem Printbereich.«
Mir gefällt, was eine Mentorin schreibt: »Hallo alle zusammen, ich helfe euch bei folgenden Fragen: Wie sollen wir weiter vorgehen? Welche Programme können wir unkompliziert benutzen? Wie soll unser Prototyp aussehen? Woher wissen wir, ob die Idee gut ist?«. Jemand anderes schlägt vor: »Hi. Da wir sehr viele UX-Leute hier haben, frage ich mich, ob wir nicht ein User Testing oder Expert Review Channel erstellen, in dem Leute ihre Drafts zeigen und testen können. Dadurch könnten wir schnellere Iteration ermöglichen.« Die Typografin antwortet: »Müssen nur auch allen von dem Channel erzählen (die sind ja zunächst erst mal unsichtbar, wenn man nicht aktiv danach sucht).« Sie bekommt Zustimmung.
Während sich Designerinnen und Designer mit ihren Profilen vorstellen, klingen die Design-Gesuche in dem Channel »Unterstützung erfragen« eher allgemeiner: »Help! Designer! Hi zusammen, wir sind auf der Suche nach Designern für unser Projekt.« Andere fragen: »Hallo zusammen, welche Tools könnte man denn verwenden, um ein animiertes Video zu machen oder welche benutzt ihr denn so?« Oder: »wir bräuchten noch Unterstützung bei der grafischen Aufarbeitung von unserem Projekt.« Die Kanäle füllen sich mit vielen Nachrichten aus Hilfsangeboten und Suche nach Unterstützung.
Tausende Design-Treffer
Da sich Slack sehr gut durchsuchen lässt, habe ich genauer herausgesucht, wie Begriffe rund um das Thema Design genannt wurden. Ich wollte wissen, welche Design-Begriffe in den unzähligen Nachrichten wie oft zu finden waren und in welchem Kontext sie genannt wurden.
Suchergebnisse aus dem Workspace »WirVsVirus« für den Zeitraum des Hackathons, vom 20. bis 22. März.
Die Auflistung der Begriffe sagt noch nicht so viel darüber aus, in welchem Zusammenhang darüber gesprochen wurde. Schaut man noch genauer, fällt auf, dass bestimmte Begriffe nur in den Design-Channels genannt werden, nicht aber von denen, die eine bestimmte Design-Unterstützung suchen. Darunter fallen Begriffe wie »Kommunikationsdesign« oder auch »Typografie«. Das Wort »UX« taucht außerhalb des Design-Channels viel häufiger auf, als innerhalb. »Kommunikationsdesignerin« wird 33 Mal genannt.
Ein Projekt finden und kollaborieren
Während sich die Channels füllen und die Komplexität der Informationen steigt, werde ich langsam nervös. Wie soll ich in diesem digitalen Chaos denn überhaupt durchsteigen? Glücklicherweise treffe ich zufällig Alessa in einem Channel, die für ein Projekt auf der Suche nach Design-Feedback ist. Ich melde mich, dass ich Interesse habe. »Welcome Andrea!« schreibt sie und ich springe rüber in einen neuen Channel. Das Team aus zwei Entwicklern, einem Designer und Alessa, der Projektmanagerin hat schon losgelegt. Sie arbeiten an einem Prototypen, mit dem man aktuelle und offizielle Corona-Information von Ministerien und Bundesbehörden auf Webseiten einblenden kann. »CoVerified« wird es später heißen. Die Projektidee finde ich super und unterstütze sie gern. Nach erstem Umherstreunern in den Channels wird es für mich endlich konkreter. Vergesse dabei, dass ich ja auf dem Sessel zuhause im Wohnzimmer sitze. Draußen beginnt der Frühling.
Als CoVerified-Team arbeiten wir in einem eigenen Slack-Channel zusammen, machen zwischendurch viele Video-Calls, und schauen uns Design-Entwürfe auf Sketch und Zeplin an und testen die ersten Prototypen. Es gibt ein gemeinsames Trello-Board. Andere Teams verwenden Cloud-Systeme wie Google-Drive oder die Dropbox für die gemeinsam Dokumentenablage. Code wird auf Github geteilt. Alles geht wahnsinnig schnell.
Wir sind ein verhältnismäßig kleines Team. In anderen Channels tummeln sich über hundert Leute. Es gibt Teams, die intensiv mit 20 oder 30 Personen kollaborieren. Alleine ist hier niemand.
Rein und raus
Austausch mit anderen Teams und Teilnehmern gab es in den beiden Tagen permanent, selbst, wenn man tief im eignen Projekt versunken war. Die 45.000 Personen glichen einer Kleinstadt, in der man regelmäßig um »Nachbarschaftshilfe« bitten konnte.
»Das CoVerified-Team freut sich über Euer schnelles FEEDBACK zu diesem Tool https://coverified-website.netlify.com/«, poste ich in den Marketing-Channel. Rückmeldung nach nur wenigen Minuten. Die Weisheit von vielen zu nutzen, auch als Schwarmintelligenz bekannt, kann einfach so toll sein!
Video-Panik kurz vor Schluss
In den Kanal »#0_ankündigungen« sollen wir immer wieder reinschauen, schreiben die Organisatoren. Hier veröffentlichen sie regelmäßig Informationen, die für alle Teilnehmer+innen relevant sind. Am Sonntag Mittag, sechs Stunden bis zur Projektabgabe, steht dort: »Ladet euer Pitch Video (max. 2 Min, Empfehlung 1 Min) bei YouTube hoch. Postet den Link zu eurem YouTube Video im Channel #pitchvideo.«
Der Druckt steigt. Die Aufforderung, den Prototypen als Video hochzuladen, ist für die einen leicht, für andere eine echte Herausforderung. Wer kann helfen? Welches Tool kann man einfach verwenden? Ich schlage oft »Adobe Spark« für die Erklärvideos vor, weil es kostenlos und intuitiv zu bedienen ist.
Code Freeze
Schließlich, am späteren Sonntag Abend, ist Hackathon-Deadline. Auf der Seite »DevPost« werden alle Projekte veröffentlicht. Simon aus dem Team schreibt kurz vor Mitternacht: »Ich müsste auch mal so langsam aussteigen, da ich morgen sehr früh zwei Calls habe«. »Hab jetzt submitted«, antwortet Alessa. Ich klappe meinen Laptop zu.
Design-Epilog
Aus dem ersten Hackathon in Estland sind mittlerweile 54 Corona-Hackathons unter dem Motto »Hack the crisis« entstanden. Viele Menschen, die sich engagieren und etwas bewegen wollen, kommen auf der ganzen Welt zusammen, digital. Darin liegt viel Potenzial. Und all diese Projekte und Teams sind angewiesen auf Design-Expertise. Sei es für die Entwicklung der Frontends von Apps und Webseiten, bei der Erstellung von Erklärvideos für den Pitch ihres Projektes, der Gestaltung von Logos, der Gestaltung von Serviceprozessen oder der visuellen Übersetzung einer Idee in eine verständliche Form. Für die Entwicklung der Prototypen in den Hackathons, aber auch darüber hinaus, braucht es unterschiedliche Kompetenzen und Perspektiven. Design ist auf jeden Fall eine davon.
Links zum Hackathon WirVsVirus
Alle Projekte des Hackathons auf DevPost
Die 20 Top-Projekte auf YouTube
Die Autorin
Andrea Nienhaus
Dieser Bericht zu #wirvsvirus erschien am 27. April 2020 anlässlich des #welttagdesdesigns. Unser Fazit: #designhilftmit und #designistbusiness
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